![]() |
KAFKA
Koproduktion
mit Theater Thikwa
|
Das „Experiment im Sprachlabyrinth“, in das der ebenso scharfsinnige wie empathiebegabte Regisseur und mitagierende Spiel(ver)führer Dominik Bender die Darsteller von Thikwa und die Zuschauenden verwickelt, darf als Leuchtfeuer in dem seit mehr als 100 Jahren brodelnden Meer der Kafkaexegese gefeiert werden. Denn dieser „Drahtseilakt für vier hoffnungsvoll (!) überforderte Schauspieler“ überschreitet auf vielfältige Weise Sprach- und Wahrnehmungsgrenzen, erschafft Zwischenwelten und –gestalten, die Kafkas oft groteske Prosaminiaturen kongenial und mit bizarrer Komik erhellen.
Diese Co-Produktion zwischen dem THEATER ZUM WESTLICHEN STADTHIRSCHEN und THIKWA ist eine Versuchsanordnung von Grenzgängern jenseits des Literarischen Quartetts und subventionierten Staatstheaters. Ideenreich von Anke Mo Schäfer und Dominik Bender choreographiert, ist sie in ihrer Untertreibung das Jemandwerden von Lauter Niemand: der „behinderten“ Akteure zu Laut- und Sinngebenden in all ihrer Widersprüchlichkeit - der verrätselten, (Tier-)Gestalten von Kafka zu nicht eben glücklichen Mitgeschöpfen. Dies alles als paradoxe, ja bitterböse Botschaften, jedoch in der Schwebe gehalten durch die Fülle nonverbaler Intermezzi und das dem epischen Theater verwandte dramaturgische Vorgehen: Wir erleben die anders begabten Schauspieler beim Probieren und in der Komik des Misslingens. Als Klang- und Resonanz-Körper, die den verstörenden Texten Gestalt und Ton verleihen.
Im Entrée, wenn die Vierergruppe ihr Selbstverständnis formuliert (eine verschworene Gemeinschaft, die einen Fünften nicht duldet) ist das Ausgeschlossensein, der vergebliche Kampf um Zugehörigkeit Thema. Die Akteure beziehen (ihre) Position hinter einer minimalistisch mit einer Stuhlreihe ausgestatteten Bühne. Dabei agieren neben Dominik Bender, dem Impuls- und Textgeber, Karol Golebiowski in seinem eigenen Esperanto, der Assoziationsakrobat Wolfgang Fliege und die energische Corinna Heidepriem, die das Publikum mit dem Ausruf willkommen heißt „Die Tür ist zu!“.
Das so erzeugte Gefühl, in einer Falle zu sitzen, stimmt ein auf andere Empfindungen, die die mit subtiler innerer Logik von Anke Mo Schäfer versammelten Kafkatexte evozieren. Etwa, einem nie erfüllbaren Wunsch nachzujagen, als unkonformer Mensch zu scheitern, einer existentiellen Zurückweisung oder Bedrohung ausgesetzt oder in seiner (künstlerischen) Einzigartigkeit nicht anerkannt zu sein wie in Kleine Fabel, Vor dem Gesetz, Der Geier und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse.
Tanz, Luftgitarrenspiel und Dumb Shows machen die Darsteller am „Sprachrand“ sicht- und hörbar und erhellen die Botschaften des Autors ebenso wie das fingierte Kafka-Symposium, bei dem Karol Golebiowski in eigenwilliger Lautierung den verschollenen Text „Der Hochsitz“ vorträgt. Die hier agierende Expertenrunde kann Kafkaexegeten wahrlich in Verlegenheit bringen.
Die Mäuse - bei Kafka neben der Dohle, die das tschechische Äquivalent seines Namens ist und manches mit dem hier heftig vorgetragenen Der Geier gemein hat - kommen als Manna vom Bühnenhimmel, werden verzehrt und so erledigt: Josefine, die als Sängerin und Diva letztlich scheitert, kann auch ihr mäusisches Fiepen nicht retten.
Tiere scheinen die besseren Menschen zu sein, wie im Bericht für eine Akademie und in Kreuzung, in dem Kafka eine von seinem Vater geerbte Kreatur, halb Lamm, halb Katze, vorstellt. Wenn sich die Akteure hechelnd, fauchend und fiepend an den vortragenden Bender und aneinander schmiegen, hat diese Kreatur zumindest im lebenden Bild einen Hort gefunden.
Ob allerdings das THEATER ZUM WESTLICHEN STADTHIRSCHEN ein Hort für unkonventionelle Theaterarbeit bleiben kann, ist ungewiss. Ihm wurden zum ersten Mal seit 27 Jahren keine Fördermittel mehr zuteil.
Christiane Frettlöh, 2009
![]() |
WEIL
MORGEN GESTERN WAR
|
Vom Altwerden
„Altsein
ist die Zukunft. Die Angst vorm Älterwerden wächst wie die Zahl
der Alten.“ Aus dieser Erwägung haben Anke Mo Schäfer und
Dominik Bender vom Berliner theater zum westlichen stadthirschen „eine
theatrale Bestandsaufnahme aus erzählten Erinnerungen, Gedankenspielen
und Momentaufnahmen“ initiiert. Der Abend heißt „Weil morgen
gestern war“. Ort der Aufführung ist die Kapelle auf dem Friedhof
in der Boxhagener Straße 99, Stadtteil Friedrichshain.
Wo sonst trauernde Menschen sich still von ihren Verstorbenen verabschieden,
sitzen jetzt die Zuschauer reihenweise hochgetürmt und schauen aufs weiträumige,
sparsam möblierte Parkett. Drei DarstellerInnen, Maria Gräfe (hervorragend,
vielseitig), Hannelore Wüst (sympathisch, kompetent) und Dominik Bender
(bewährt, professionell), spielen, sprechen, zitieren aus Interviews
mit älteren Menschen und jüngeren Freunden vom Theater Thikwa, der
Spielervereinigung behinderter Akteure, die stets für überraschende,
witzige und aberwitzige Texte gut sind. Prosa von Jean Améry, Friederike
Mayröcker und Claudia Wolff fassen die einzelnen Passagen zusammen, erhellen
und vertiefen die Aussagen zu den Themen Alter, Krankheit, Sterben, Tod. Die
Monologe, Dialoge, Zitate und Sketches werfen Schlaglichter – auch grelle
– auf ein Thema, das alle bewegt, auch wenn es zumeist verdrängt
wird.
Das ist gewiss kein lustiger Abend, doch die kluge Mischung der Texturen erlaubt
sogar Heiterkeit, provoziert dann und wann ein Schmunzeln. Wie so oft bei
den Protagonisten vom „stadthirschen“ ist eine gelungene Melange
entstanden. Das gescheite Konzept wurde klug umgesetzt, die theatralische
Aufbereitung überzeugt. Das Publikum folgt aufmerksam der Gedankenvielfalt
zu einem Stoff, dem niemand entrinnen kann. Nur die da draußen in ihren
Särgen, Urnen und Gräbern dicht neben der Kapelle haben es hinter
sich.
Anne Dessau, Ossietzky
Stück über die
Schattenseiten des Älterwerdens
Das Alter
kann tragisches Unglück bergen wie Demenz. Es gibt ganz alltägliche
Hindernisse. Wenn etwa eine 58-Jährige allein bleibt, weil ihre männlichen
Altergenossen nur auf junges Gemüse stehen. Oder, wenn sich jemand zu
sehr vor der Vergänglichkeit ängstigt. Wie der 38-Jährige,
der paranoid glaubt, Essen lasse die Haut altern. Und dann ist da noch der
unausweichliche Tod. Jeden zweiten Dienstag finden in der Friedhofskapelle
an der Boxhagener Straße Beerdigungen statt. Umgewidmet zur Theaterkapelle
der perfekte Rahmen für eine Betrachtung der eigenen Endlichkeit. Ein
schwergewichtiges Sujet, vom Theater zum westlichen Stadthirschen zum 25-jährigen
Jubiläum ausgewählt. Anke Mo Schäfer und Dominik Bender haben
aus Interviewausschnitten sowie aus Texten von Friederike Mayröcker,
Claudia Wolff und Jean Améry ein Stück entwickelt und inszeniert:
"Weil morgen gestern war" beleuchtet sehr realitätsbezogen
ohne idyllische Verklärung vor allem die negativen Seiten des Alters.
Drei Schauspieler tauschen Erinnerungen und Erfahrungen aus. Maria Gräfe
(58) und Bender (50) knüpfen Momentaufnahmen an Gedankensequenzen. Dabei
arbeiten sie mit ihren Geschichten regelrecht eine Stichpunkt-Liste ab: Gebrechen,
Krankheit, Alzheimer, kranke Eltern, Sterbehilfe, Resignation, junge Alte
und ihre neuen Hobbys. Hannelore Wüst (80) wiederum kennt die Grausamkeiten
der hohen Jahre und sinniert über den Verlust von geliebten Menschen.
Bei allen, die bislang keine Angst vor dem Alter hatten, dürfte sich
nach der bedrückenden Collage ein beklemmendes Gefühl einstellen.
Ulrike Borowczyk, Berliner Morgenpost
![]() |
DIE
FLIEGER
|
Weltenbummler
Die Flieger
Was passiert, wenn
ein Flugkapitän, der gar nicht fliegen will, seinem Copiloten, der immer
fliegt – egal ob in der Luft, auf dem Boden oder in Gedanken –
bis in die Stratosphäre hinterher sausen muss? Dann kommt eine Tour heraus,
auf der innerhalb von drei Sätzen auf fünf Assoziationskontinenten
zwischengelandet wird und dabei diverse gerammte Wolken vom Himmel plumpsen.
Eine Reise, an deren Stationen gegluckst, geschimpft und gesungen wird. Oder
auch stur geschwiegen.
Ein richtiges Flugzeug stellen die zwei Stühle im Vordergrund und der
riesige Sonnenschirm im Hintergrund sowieso nicht dar. Und die beiden Herren
mit den Flugzeugkrawatten haben mit einer Cockpitbesatzung ungefähr soviel
gemein wie Philosophen mit Automechanikern. Dominik Bender, der Chefpilot,
ist Gründer des Theaters zum westlichen Stadthirschen und hat seinen
behinderten Kollegen vom Theater Thikwa schon mit „Das Zarte wird ja
immer überdroht“ ein wunderbar poetisches Denkmal gezimmert.
Wolfgang Fliege, der Über-, Unter- und Seitenflieger gehört zu eben
jenem Ensemble und entzieht sich schillernd jeder Einordnung. Sänger,
Charmeur, unwirscher Meckerer, weiser Alter, er ist alles und wechselt die
Stimmungen im Sekundentakt. Aus seinen stetigen Selbstgesprächen bei
mehreren Rundgängen durch den Flughafen Tempelhof destillierte Bender
den Textkörper, auf den Fliege wiederum reagiert. In jeder Vorstellung
neu, in jeder Vorstellung unberechenbar. Und sie begegnen sich wirklich, diese
ungleichen Brüder, diese Bruchpiloten – beide Schau-Spieler in
ganz verschiedenem Wortsinn. Zwei Clowns auf dem Hochseil, immer absturzgefährdet.
Aber wie sie die Dinge des Lebens in absurder Folgerichtigkeit betrachten,
das berührt und fasziniert.
Gerd Hartmann, zitty
16/2007
Knoten
lösen
ANNE DESSAU – Ossietzky 5/2007
„F40“ heißt jetzt die Spielstätte in der Fidicinstraße
40, Berlin-Kreuzberg. Die Marke vereint das English Theatre Berlin und das
Theater Thikwa unter einem Dach. Am Abend der Premiere von „Die Flieger“
hatte das „theater zum westlichen stadthirschen“ Gastrecht im
„F 40“. Wie bereits in der Aufführung „Das Zarte wird
ja immer überdroht“ (OSSIETZKY 18/2006) waren auch hier Text und
Aufführung eine Koproduktion zwischen stadthirschen und Thikwa. „Thikwa“
ist hebräisch, heißt „Knoten“, heißt „etwas
ist verknotet“, bedeutet aber auch „Hoffnung, etwas zu lösen“.
Zwei Schauspieler, zwei Welten begegnen uns in diesem Sinne. Dominik Bender,
Gründer (1982) und Protagonist des stadthirschen und Wolfgang Fliege,
über den es im Pressetext heißt: „ – eines der eigentümlichsten
Mitglieder des Theaters Thikwa, als Schauspieler so unberechenbar wie als
Persönlichkeit rätselhaft und scheinbar unergründlich. Er ist
Dandy, Muffel, Komiker, Dadaist, Musiker und Charmeur gleichermaßen
und seine „Behinderung“ ließe sich vielleicht mit der totalen
Abwesenheit
jeglichen Argwohns beschreiben.“ Aus den unendlichen Selbstgesprächen
Flieges wurde ein Text gefiltert, er ist also nicht nur Akteur, sondern auch
Autor des „Textkörpers“. Berührung wird versucht.
Auf der Bühne steht eine Kunstfigur, Dominik Bender, Flugkapitän
im Stück und das Naturereignis Wolfgang Fliege, Co-Pilot. (Die notdürftige
Rahmenhandlung versetzt den Betrachter in ein Cockpit in zehntausend Metern
Flughöhe.) Um Flug und Stück auf Kurs zu halten, muß Dominik
Bender sowohl den Flieger wie Fliege, Wolfgang lenken und leiten. Eine Glanzleistung,
denn: Naturereignisse sind unberechenbar. Die Balance gelingt, obwohl der
burleske Charme von Fliege, seine überraschenden, verdrehten, skurrilen
Einfälle Dominik Bender oftmals überrumpeln. In dieser Doppelfunktion:
Textintensiver Darsteller plus heimlicher Dirigent seines Partners, leistet
Bender Hochartistik.
Motto des Abends das Sprichwort: „Wir sehen die Dinge nicht wie sie
sind, sondern wie wir sind“. An diesem Abend sehen wir sie so und so,
ganz nah und aus einem Abstand von zehntausend Höhenmetern. Mindestens.
Es wird gelacht, geklatscht, man ist verwirrt, das Unmögliches möglich
ist, Unvereinbares zusammen geht. So der skurrile, poetische, von Bender eindringlich
vorgetragene Text sich verbrüdert mit den spontanen Einwürfen, dem
Kichern und Gackern, Rülpsen, Tanzen und Hopsen, dem stillen Strahlen
des weisen Mannes Fliege. Es ist die Performance eines weißen Clowns
mit seinem
Partner. Doch wer ist Clown, wer der andere?
Die Antwort begegnet mir nach dem schönen Beifall für die Spieler,
draußen auf der Straße. Einen Moment stand ich im Gespräch,
da trat das Naturereignis Fliege aus dem Torweg, Kopf gesenkt, Tasche unterm
Arm, Einspruch murmelnd, unfroh. „Alles vorbei?“, sage ich. Er,
ohne aufzuschauen: „Alles vorbei, alles vorbei“ und stapft im
Nieselregen über die Straße, hin zur U-Bahn. Drinnen im Haus wird
gefeiert. Das sind so Momente. Voller Wahrheit. Ungeschönt schön.
Tieftraurig.
Wie dieser Abend.
![]() |
DAS MÄDCHEN |
GRENZGÄNGER
Im „Goldenen Saal“ des TACHELES in Berlin gastierte wieder einmal das „theater zum westlichen stadthirschen“. Der von den Zeitläufen zerfledderte Saal ist ideale Kulisse für die Bühnenfassung der literarischen Vorlage von „DAS MÄDCHEN“. Unwirtliches Umfeld, verstörender Text, eigenwilliger Aufführungsstil, „kollektives theatrales Erzählen“ genannt.
Sechs Darsteller kommen auf die Bühne, stehen, gehen auf und ab. Grenzgänger zwischen Traum und Wirklichkeit, berichten sie die irritierende, schwer fassbare Geschichte. Vater, Mutter, Schwester tot, durch Erhängen, umgekommen bei einem Brand, ausgelöst durch ein „Mädchen, das die Streichhölzer zu sehr liebte“. So der Titel des Romans von Gaétan Soucy, Montreal, nach dem die Erzählung für die Bühne erarbeitet wurde.
Regisseur Erick Aufderheyde gelingt mit seinen Darstellern ein spannungsreicher Abend, der vermehrte Hirntätigkeit erfordert, die Puzzleteile des Spiels in eine verständliche Ordnung zu bringen. Doch man bleibt verführt, folgt dem Geschehen. Ein Sog entsteht, der auch den eingangs befremdeten Betrachter ins vielschichtige Psychodrama zieht: Rituale der Gewalt, exzentrische Moralvorstellungen, Ausgeliefertsein und Selbstbestimmung, Tod und trotz alledem Lebenskraft.
Mit der Geschichte von denen am Rande, den „borderlinern“ unserer sogenannten zivilisierten Welt, nimmt sich die Theatertruppe um Dominik Bender (seit 1982 leitender „stadthirsch“ und Schauspieler) erneut eines Themas an, das sie bereits in anderen Arbeiten vorgestellt und verteidigt hat. Sie bezeugt die Kraft der Schwachen, deren Reichtum an Fantasie, zwingt zu Innehalten, Atempause im Tageskampf ums Monetäre und andere Werte, beweist ihre unentbehrliche Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies.
Das Ensemble arbeitet hochkonzentriert, sehr professionell. Mitwirkende sind: Angela Böhmer, Cathrin Romeis, (die Frauen beeindrucken besonders nachhaltig), Dominik Bender, Peter Pankow, Markus Wechsler, Ernst Surberg.
Die Kopfarbeit hält an nach diesem Abend. Ein selten gewordenes Ereignis
Anne Dessau, Ossietzky 5/2006
![]() |
MAISON DE SANTÉ |
EINE REISE INS GLÜCK - Vollkommener Abend: "Maison de Santé"
Mildes mediterranes Licht scheint auf den Mauern zu tanzen. Ein Berliner Medizinstudent (Patrick von Blume) und mit ihm die Zuschauer reisen 1830 nach Südfrankreich, um ein modern geführtes Irrenhaus zu besuchen. "Maison de Santé - Einladung zur feinen Gesellschaft" nach einer Erzählung von Edgar Allan Poe spiegelt in einer Koproduktion des "Theaters zum westlichen Stadthirschen" und dem "Theater Thikwa" das übliche Hinterfragen der Zuschreibungen von "irr" und "normal" gleich mehrfach: Schauspieler spielen Verrückte, die "Normale" spielen; Behinderte spielen "Normale", die vielleicht doch verrückt sind. Wo andere Theaterarbeiten dieser Art aufhören, fängt es hier erst an: Was im Tacheles passiert, ist die totale Kunst.
Bevor der Gast die Einrichtung zu sehen bekommt, wird er vom Direktor (Dominik Bender) zum Diner geladen, einem karnevalesken Mahl mit hoher Balladenkunst und ungehobeltem Bänkelsang: "Hier tanzt das einfache Volk mit der feinen Gesellschaft." Der Gast ist das alter ego des Zuschauers, der es ganz genau wissen will - bis er durchdreht. Immer alles schön rauslassen, beruhigt ihn Prinzessin Annabelle (Heidi Bruck). Der Menschen-versteher wird zum medizinischen Fall.
Verwoben mit Texten und Liedern der Spieler, gerät Poes Erzählung in feinere Schwingungen, als soziale Nachdenklichkeit es fassen würde. Von der subtilen Lichtregie über das aufbrandende Stimmenchaos bis hin zu den leisen, vornehmen Dienern (Jonny Chambilla, Ronny Dollase) fällt nichts heraus aus diesem Stück um Freiheit und Kontrolle. Werner Gerbers Regiearbeit und Benders Rolle als autoritär-respektvoller "primus inter pares" bekennen sich nicht wohlfeil zur Souveränität der Behinderten; sie stehen und fallen mit den Denk-Bewegungen aller ihrer Künstler. Dies ist nicht erstaunlich, sondern zutiefst schön: Nicht nur zur Einsicht, daß die Grenzen zwischen "Wahn" und "Sinn" willkürlich sind, nein: zum "Genießen" will der Direktor seinen Gast bewegen.
Der grübelnde Reisende muß es am Ende allein aushalten mit seinen Albträumen; der gestärkte Zuschauer aber, der sich dem Genuß dieser genialen Arbeit anvertraut, erlebt einen Theaterabend vollkommenen Glücks.
Cosima Lutz, Berliner Morgenpost
Ich sterbe nicht, ich lebe, ich lebe doch für mein Geld - Sagen wir mal so, Berlin ach, Berlin ach, ich möchte ganz gerne, ich finde Berlin, Berlin, da verzweifel ich immer - Ein Geist ist, wenn man ihn nicht sieht - Ich wollte immer schon eine andere Mutti haben, aber ich bekomm die nicht - Als wir mal zusammen waren, da hab ich meine Frau geküsst, das muss man machen, ist aber schwer - Ich weiß nicht, aber jemand hat mit dem Eimer sprechen wollen, und der hat geantwortet - Hunde mag ich nicht, nee, Hunde mag ich nicht, nur Frauen - Wenns den gibt, aber Gott gibt’s ja nicht, der ist ja unsichtbar, das Gesicht möchte ich mal von dem sehen, wie er aussieht, ach der sieht so unsichtbar aus, weiß ja nicht, ob der Ohren hat. Theater:
Die echten Perlen
sind selten im unübersichtlichen Berliner Kulturbetrieb. Aber hier
ist so eine. Gefunden in einem zweiten Hinterhof in Kreuzberg. Gemacht
von Menschen, von denen man, was für ein Irrtum, das zunächst
gar nicht erwartet hätte. "Das Zarte wird ja immer überdroht".
heißt diese Entdeckung. Es ist eine Produktion des Theaters zum
westlichen Stadthirschen, das im letzten Jahr zusammen mit dem Behinderten-Theater
Thikwa das Stück „Maison de Santé“ entwickelte.
Bei den Proben kamen die behinderten und die nichtbehinderten Schauspieler
ins Gespräch. Man plauderte über Gott und die Welt. Und über
noch viel, viel mehr.
Das Zarte wird ja immer überdroht Zwei Stühle auf zwei kleinen Podesten, zwei Schauspieler,
die nichts weiter tun, als darauf zu sitzen und zu reden, ein paar einfache
Lichtwechsel - manchmal braucht die Interpretation der Welt nicht mehr.
Diese Welt ist nah und fern zugleich. Denn eine Gedankenkette kann sozusagen
vor der Haustür anfangen, sich ein Mal um den Mond winden, um danach
auf den Küchenstuhl zu plumpsen. Ganz selbstverständlich.
Gespräche mit den geistig behinderten Kollegen des Thikwa-Theaters
während der Proben zu einem gemeinsamen Stück bilden das Textmaterial,
das Dominik Bender und Silvina Buchbauer vom Theater zum westlichen
Stadthirschen zum Schwingen bringen. Was die zu erzählen haben,
über Liebe, den Alltag, das Fernsehen und Gott sprüht vor
verblüffenden Wendungen, Witz und Weltenklugheit. Karl Valentin
trifft Kafka - aber solche Vergleiche taugen für die eigentümliche
Poesie dieser Lebens-Erfahrungen nur bedingt. Und ganz nebenbei wird
klar, dass geistige Behinderung mit Dummheit gar nichts und mit anderer
Wahrnehmung sehr viel zu tun hat. Bender und Buchbauer schlüpfen
in keine Rollen. Sie lassen die Texte atmen. Allein, im Zwiegespräch,
ganz behutsam. Mal hört sich das an wie ein etwas verrutschtes
Frühstücksgespräch, mal wie eine gedanken- und auch sonst
trunkene Sinnsuche in der Kneipe nachts um halb vier... Ein ganz großer,
kleiner Zuhörabend. Das Zarte
Gestern war ich
endlich dort, im »theater zum westlichen stadthirschen«,
Kreuzberg, Fidicinstraße. Premiere war bereits im Jahre 2004:
»Das Zarte wird ja immer überdroht«. Das sind Texte
aus Gesprächen mit Schauspielern des Thikwa-Ensembles, Behinderten,
die sich die Spielstätte mit den Kollegen vom »stadthirschen«
teilen. Anke Mo Schäfer und Dominik Bender haben sie interviewt,
aus den Gesprächen Miniaturen entwickelt. Zwei Protagonisten des
»stadthirschen« tragen sie vor, gestalten sie. Die Botschaft:
»... das kreative Potential von Menschen ausloten, die sich a
priori nicht als Dichter begreifen, aber mit großer Sensibilität
und poetischer Assoziationskraft ungewöhnliche und alles andere
als behinderte Ansichten von sich selbst und der Welt entwerfen«.
|
Er ist nicht gerade der Inbegriff eines archaischen Helden, der Darsteller des Gilgamesch Patrick von Blume. Wenn er zu Beginn als arroganter Amateur-Forscher George Smith durch die irakische Wüste stapft im Tacheles um einen übergroßen schwarzen Holzkubus herum dann ahnt man kaum, zu welchen Gefühlen dieser Mann fähig ist. In Andreas Stadlers Adaption des ältesten erhaltenen Epos der Menschheit nähern wir uns der großen sinnlichen Freundschaft von Gilgamesch und Enkidu über die Nöte der Archäologen, als wäre es eine jener billigen Filmproduktionen des Abenteuer-Genres aus Schwarzweiß-Zeiten mit slapstickhaften Szenen und Musical-Elementen: englisch mit deutschen Untertiteln. Das ändert sich, wenn im schwarzen Kasten jene Stein gewordene Überlieferung gefunden wird und unter den Händen zerbricht. Spaziergang
durch die Wüste
|
Bewusst abgelöst vom historischen Kontext und den Verfassern selbst, standen die Inhalte plötzlich für sich selbst und ermöglichten den Hörern einen ungewohnt freien Zugang. Im direkten Vergleich der Reden frappierte nicht nur die Aktualität jahrtausendalter Zeugnisse der Glaubens- und Grabenkämpfe... Wie sich Vergeltung auf Vergeltung im Lauf der Jahrtausende bis heute türmt, zeigte der Abend in beeindruckender Weise. |
Lange nicht mehr war der Theatersaal des Tacheles so schön ausgeleuchtet wie bei dieser theatralen Reise ins Venedig des späten 18. Jahrhunderts... Mit unbändiger Lust und großer Souveränität nimmt das famose Ensemble des Theaters zum westlichen Stadthirschen das Seziermesser aus der Hand der Autorin, um einer sich selbst überdrüssigen Gesellschaft durch Fleisch und Knochen zu fahren. Eine sehr gediegene Inszenierung.
|
Die bislang vierte der Literaturdramatisierungen, die Erick Aufderheyde mit dem Rumpfensemble des Theaters zum westlichen Stadthirschen inszeniert hat, ist die mit dem schwärzesten Humor....Aufderheyde hat Erzählstränge isoliert und auf einer sparsamen offenen Bühne Szenen aneinander geschnitten. Er verzichtet auf inszenatorischen Schnickschnack, vertraut dem geschriebenen und von gut aufgelegten Schauspielern gesprochenen Wort. ...In den auf die Spitze getriebenen Verweigerungen und Missverständnissen erkennt man sich selbst, seine Nachbarn und seine Freunde wieder....Stets amüsiert man sich über die vom Leben gezeichneten Figuren und ist ihnen doch nahe. Tom Mustroph, Neues Deutschland, 17.9.2002 Glückwunsch für die kleine Bühne: der Stadthirsch röhrt nun schon zwanzig Jahre....JETZT ist ein kleiner, feiner Theaterabend geworden. Vier Schauspieler/innen spielen drei Generationen einer Familie. Es geht um Distanz- und Beziehungslosigkeit, Be- und Verdrängung, um die Austauschbarkeit ihrer Biographien, Einsamkeit, Sichnichtartikulierenkönnen, vergebliche Sinnsuche. Das ist präzise gearbeitet, und es wird, oh wundervolle Überraschung, hervorragend gesprochen. Das sollte selbstverständlich sein, ist es nicht mehr auf Berlins Bühnen und sei darum ausdrücklich und freudig begrüßt. Diese Szenen einer Familie mit lauter geklonten Verwandten, dem alltäglichen Familienwahnsinn und Dialogen wie Tonschleifen ist reizvoll in Szenen gesetzt....Das Publikum zeigte sich gut unterhalten. Anne Dessau, Ossietzky 19/02 |
"Es dauert eine Weile, bis die Antworten seltsam klingen, von Geistern die Rede ist, die er gehört hat, von ganz kleinen Göttern und furchterregenden großen Tieren - und wenn er die nachstellt und schließlich in einen Monolog übergeht, die Fragen also ausbleiben, da wird deutlich: Der Mann ist krank, und weiß es auch... Die Welt der Schizophrenie gibt sich nur in kurzen Augenblicken als in sich kohärent zu erkennen - tatsächlich verstehen wir sie nicht. Auch der Autor scheint sie nicht zu verstehen - aber er respektiert sie und legt uns nahe, sie auch zu respektieren. Verkörpert von einem so talentierten und reflektierten Schauspieler fällt das nicht schwer: ein kleiner, später Sieg für die Antipsychiatrie-Bewegung." Ekkehart Krippendorf, Neues Deutschland, 13.4.02 "Bender benutzt die Sprache wie ein Seziermesser. Sehr konzentriert und sorgfältig schält er Schicht um Schicht aus den Texten heraus, quälende Befindlichkeiten, visionäre Weltvorstellungen, Anwandlungen von heiterer Unbeschwertheit, bis am Ende etwas dasteht, was mit sich ganz allein ist: ein Mensch." Regine Bruckmann, zitty 9/2002 "Es scheint aber auch auf, dass die alternativen Wirklichkeiten nicht nur faszinierend für den Betrachter, sondern ebenso Ausdruck des Leidens für den Betroffenen sind. Die Theatermacher lesen sie bevorzugt als Dokumente des Wissens, Wahrnehmens und Fühlens, die in den allgemeinen Erkenntnishorizont aufgenommen werden sollten." Tom Mustroph, die tageszeitung 13.4.02 "Die Inszenierung endet nach 70 Minuten dort, wo sie begonnen hat: im Dunkel. Dazwischen liegt eine spannende Reise in den Grenzbereich von Wahn und Normalität, die den außerordentlichen Ausdrucksreichtum, die tiefen Sehnsüchte und Abgründe der "verborgenen Künstler" einfühlsam ans Licht bringt." Karin Nungeßer, Ärzte-Zeitung 3.5.2002 "Immer wieder kann man an entlegenen Spielorten in Berlin künstlerische Spitzenereignisse erleben. Dominik Bender (von den westlichen Stadthirschen) spricht 70 Minuten lang Texte von Schizophrenen... voller Wahnvorstellungen und Widersinnigkeiten. "Winzige Tierchen" sieht einer, die ihm in den Körper kriechen, und es sind die Götter, die die Welt geschaffen haben, meint er. Einer will nicht essen und einer auf einer klitzekleinen Trompete spielen. Einer hört "so ein Geräusch am Fußboden" und das ist vielleicht die Großmutter, die sich verabschiedet. Einer schreit Worte heraus und einer hört Sphärenklänge. Dominik Bender steht vor uns in einem dreiteiligen gepflegten Anzug, wirft sich hin und verkrampft sich, kniet ermattet und verbeugt sich ergeben. Er spricht neun verschiedene Texte, die ineinander übergehen, aber auch deutlich individuelle Persönlichkeiten darstellen. Inszeniert hat das Hildegard Schroedter, eine hoch sensible Aktrice der westlichen Stadthirschen. Wer in Berlin außerordentliches Theater sehen will, sieht es eher als im Wagner-Zyklus der Staatsoper in diesem Einpersonenstück mit Texten von Schizophrenen." Joachim Kramarz, THEATER RUNDSCHAU 6/02 |
"Ein Denk- und Dialogspiel blättert durch die Zeichen der Zeit und setzt lose Fragen zu einem Kreuzworträtsel ohne Lösungswort zusammen. Wie lang ist lebenslänglich? Und was ist ein Tagedieb? Keine Ahnung. Handlung wird verweigert, das Thema bleibt vage. Womöglich ist dieser lockere Abend ein Entspannungsprogramm in anstrengenden Zeiten. Der Zuschauer darf denken, was er will und ahnt, dass alles irgendwie mit allem zu tun hat." Dirk Pilz, ZITTY 25/01 |
"Was auch immer passiert, wird im Stil größter Selbstverständlichkeit gezeigt, ob der neugierige Fürst über die Couch turnt, auf dem Boden kniend in Tränen ausbricht oder dem Verwalter an die Wäsche geht, ob er jemanden in zärtlicher Rührung anschwärmt oder einen Augenblick später cholerisch niederbrüllt. So vermittelt die solide erzählte, formschön reduzierte Aufführung neben der ganz normalen Arroganz der Macht zugleich einen Eindruck davon, was die Willkür der Herrscher bedeuten kann: Alle müssen auf alles gefasst sein - und werden am Schluss doch gelackmeiert. Nicht einmal die Schlossgespenster sind zu beneiden." Irene Bazinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.2001 "So wendet sich "Der Fürst spricht" an Herz und Geist - man erschrickt vor allzu deutlichem Despotismus, fühlt die Traurigkeit des Einsamen und die Hoffnung auf besseres und kann sich doch nicht immer einen rechten Reim auf alles machen. Linear erzählte Passagen werden geradezu befallen und durchbrochen von düsteren Einblicken in die verstörte Innenwelt des Fürsten. Geschickte Lichtwechsel in der von Schwarz dominierten Kulisse des Schlosses lassen die eben noch heitere Atmosphäre abgleiten in ein leicht kafkaeskes Intermezzo. Aber auch Leben wird nicht zerdacht, sondern gelebt und gefühlt. Hier setzt das Stück an und trifft das Publikum." Anne Mrosko, Michael Clemens, eigenart 6/01 |
"Kunstvoll schlicht wird die Erkundung von Sprache als Chiffre verküppelter Gefühle zum Zentrum der Aufführung. Der äußere Aufwand Ausstattung, Licht Requisite ist gering, die Wirkung frappant. Mal chorisch, mal individuell, pendeln fünf Schauspieler und ein Musiker zwischen berichtendem Erzählen und Spielszenen. Die Übergänge sind fließend, der Abend besticht mit einer Balance von Klarheit der Gedanken und einem Schweben nicht benannter, doch durchweg spürbarer Emotionen. Inszenierung und das Spiel der Akteure sind auf höchstem Niveau. Damit läuft die Off-Bühne manchem Berliner Großtheater den Rang ab. Peter Claus, Info-Radio "Erick Aufderheyde übersetzt Kristofs radikal verknappte Sprache in ein völlig entschlacktes szenisches Vokabular. Damit choreographiert er ein ausgefeiltes Körpersprechspiel von geradezu unheimlicher Dichte, in dem keine Bewegung überflüssig, keine Haltung nebensächlich, kein Ton beiläufig erscheint: Kargheit als Reichtum, Askese als Rausch. Hochkonzentriert und fehlerlos bewältigen die fünf trefflichen Darsteller, in mehreren Rollen eingesetzt, den straffen Spannungsbogen. |